Mehr als eine Doktorarbeit

Im Menübereich finden sich PDFs mit Exkursen und Diskursen, die sich mit der Thematik des Übermenschen-Kultes um 1900 beschäftigen. Sie sind Bestandteil meiner 2013 an der Goethe-Universität/Frankfurt eingereichten Dissertations-schrift „Des Übermenschen Schönheit kam zu mir als Schatten“ Ästhetiken, Ideologien und Lesarten des Übermenschlichen: Friedrich Nietzsche und das deutsche Fin de siècle, haben indes nicht Eingang in die publizierte Fassung der Doktorarbeit gefunden.

Es soll und kann hier nun nicht die Schrift zusammengefasst oder rekapituliert werden, sondern vielmehr sollen ergänzende Bausteine gegeben sein, die sicher auch jeweils einzeln interessieren. Nichtsdestotrotz sei zumindest das Thema und die Heranführung an dieses hier aus der Einleitung wiederholt:

Der Gedanke des Übermenschlichen, der Möglichkeit eines Menschseins, welches das alltägliche Menschsein überbietet, gehört schlechterdings zur conditio humana und zeitigt die verschiedensten Facetten: Man findet Übermenschliches in den Mythen in Form von halbgöttlichen Helden oder in Erzählungen von einem anderen Menschsein in einem Goldenen Zeitalter; die klassische Antike formuliert ein Ideal in Form des Männerkörpers, das zum Maß aller Dinge erklärt wird; die Evangelien bereiten es vor, Paulus predigt schließlich einen ‘neuen Adam’; das frühe Christentum betont das Verständnis eines neuartigen Menschseins stark; die Gnosis will die ‘Gottesfunken’ im Menschen zum Lodern bringen und eine Gottmenschlichkeit realisieren; die Alchimie sucht unter den Chiffren des Stein des Weisen oder dem Elixier tatsächlich nach dem homo totus; christliche Häretik, Charismatik und Mystik prägt durch die Jahrhunderte die verschiedensten Konzepte zur Einswerdung des Menschen mit Gott aus; die Renaissance dagegen verheißt ein neues lebensfrohes Menschsein, ebenso wie den neuen mächtigen Herrschertypus, der Aspekte Gottes in sich bindet und nur noch formal an das Christentum gebunden ist; die humanistischen Staatsutopien betten ihre Vorstellungen des idealeren Menschen in neue Gesellschaftsentwürfe ein; die Sattelzeit emanzipiert und diszipliniert einen neuen Menschen gleichermaßen, während parallel in Geheimbünden (in außerordentlicher Weise die lluminaten) in der Abschottung ein besseres Menschsein erprobt wird; die Romantik will den Menschen durch geniales Künstlertum und Naturmystik neu erfinden; zeitgleich wird das politische Genie verklärt, vor allem in Napoleon, wobei Jean Paul den explizit antichristlichen Charakter der Außerordentlichkeit herausstreicht; Kant will den vernünftigen, den ins Licht der Aufklärung gestellten Menschen stiften; Hegel glaubt die Synthese zwischen Mensch und Gesellschaft zu vollziehen; Feuerbach und Marx wollen den neuen Menschen emanzipieren.
Und darüber hinaus gibt es kultur- und epochenübergreifend tatsächlich Menschen der Außerordentlichkeit. Karl Jaspers benennt als deren maßgeblichen Eigenschaften, dass sie sich in ihrer Größe nicht vergöttern lassen [1] und dass sie eine neue umgreifendere Form des Menschseins leben würden, welches die traditionellen Anschauungen von Gut und Böse überwindet und somit ein neues Maß setzt. [2] Als maßgebende Menschen betrachtet Jaspers dabei Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus. [3]

Fokus der Dissertationsschrift ist indes eine Epoche, in der die Konzepte vom Übermenschen, vom Zukunftsmenschen, vom neuen Menschen oder vom Edelmenschen einen Kulminationspunkt haben: Im Fin de siècle ‒ was nicht nur das Ende des 19. Jahrhunderts und die Wende zum 20. Jahrhundert meint, sondern vielmehr die Jahre 1890-1914 [4]; zudem klingt in der Begrifflichkeit Fin de siècle auch die zweite Wortbedeutung von siècle/Säkulum an, nämlich das Ende eines Weltzeitalters oder gar der Welt selbst. Es ist der finale Umbruch in das moderne Zeitalter, welches neben Dekadenz, Angst vor der Moderne und Krisensymptomen nun auch die Formulierungen neuer Verfassungen des Menschen hervorbringt.

Tatort ist hier in besonderem Ausmaße Deutschland, obschon sich beispielsweise Lew Tolstoi (1828-1910) in Russland um ein neues quasi-urchristliches und naturnahes Menschsein bemüht, August Strindberg (1849-1912) in Schweden Nietzsches Übermenschen (verstanden als Ausdruck einer neuen Härte) bekanntmacht, in Großbritannien William Morris (1834-1896) eine ganze Bewegung ‒ Arts and Crafts Movement ‒ stiftet, welche nicht nur das Kunsthandwerk neu etabliert, sondern den Menschen auch in eine neue/alte Lebensweise mit der Natur bringen will.

Im wilhelminischen Kaiserreich indes prägt nicht nur Friedrich Nietzsche (1844-1900) den Begriff Übermensch, sondern eine Vielzahl von Bewegungen und Vereinen erproben das Menschsein neu oder fordern es für die Zukunft neu, jeweils begleitet von Publikationen und bildender Kunst. Schlagworte sind dabei ein (im Anklang an platonisches Höhlengleichnis, Christentum und Gnosis) ein Streben nach Licht und/oder Höhe. Klaus Jeziorkowski führt dazu aus, „daß in der deutschen Kultur der Jahrhundertwende, in Literatur, Kunst und Philosophie zwischen 1890 und 1914 es einen wahren ›Höhe‹punkt, eine sich auftürmende Welle des Denkens in solchen Mustern des depravierten Idealismus gegeben hat. »Aus dunklen Tiefen empor zu lichten Höhen«, war das Programm der gesamten wilhelminischen Periode und ihrer zwei Kulturen, der affirmativen und der avantgardistischen. Beiden ist es gemeinsam.“ [5]

Wenn die Doktorarbeit sich vor allem dem entsprechenden Zeitgeist widmet ‒ und dabei ganze Unterkapitel auf Richard Wagner, Lebensreform oder Stefan George sich konzentrieren lässt ‒, so sollen im Zentrum (neben selbstredend Nietzsche) die beiden Persönlichkeiten stehen, welche item Jeziorkowski in seinem Aufsatz Empor ins Licht thematisiert: der Schriftsteller Karl May (1842-1912) und der bildende Künstler Sascha Schneider (1870-1927). Ist Letzteren Werk laut Jeziorkowski „eines der gar nicht so häufigen Beispiele gnostizistischer Malerei“, welche zwar die Epoche spiegelt und prägt, aber nur von wenigen Künstlern explizit getragen wird, so formuliert Ersterer in seinen Romanen des Spätwerks (ab 1900) die Vision eines Edelmenschentum, welche nur 10 Tage vor seinem Tod in dem Vortrag Empor ins Reich der Edelmenschen (Wien, 22. März 1912) kulminiert. Die sich ergebende Trias Nietzsche-May-Schneider verdeutlicht gleichsam, dass die Dissertationsschrift sich als interdisziplinär versteht, wobei vor allem Ideologiekritik, ideengeschichtliche wie philosophische Ansätze und die Fokussierung der ästhetischen Dimension diese Arbeit ausmachen.

Ob der Leser nun über die Publikation, übers Googeln oder rein zufällig auf diese Seite geraten ist: Ich wünsche eine inspirierende Lektüre!

Roland Wagner,

Frankfurt am Main, Sommer 2015

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[1] Karl Jaspers, ‘Die großen Philosophen. 1. Band’, München/Zürich 1988, S. 33f.

[2] Ebd., S. 80f.

[3] Vgl. ebd., S. 105-228..

[4] Analog dazu ist die in Historikerkreisen verbreitete Anschauung, das ‘kurze 20. Jahrhundert’ dauere von 1914 bis 1989/1991.

[5] Klaus Jeziorkowski, ‘Empor ins Licht. Gnostizismus und Licht-Symbolik in Deutschland um 1900’, S. 152-180; in: ders., ‘Eine Iphegenie rauchend. Aufsätze und Feuilletons zur deutschen Tradition’, Frankfurt am Main 1987, S. 152.

[6] Zit. nach: ebd., S. 165.